Neu interpretiert, nicht rekonstruiert

Die Geschichte einer Leidenschaft – und eines Zufalls.

Roberto Bianconi (*1939 in Mailand) ist ein Repräsentant jener architektonischen Richtung, die als «Tendenza» Geschichte geschrieben hat. Einen frühen Akzent setzte er 1972 mit einem Wohnblock in Bellinzona. Dort besitzt das Architektenpaar Barbara Burren und Detlef Schulz seit kurzer Zeit das Penthouse. Die Geschichte einer Leidenschaft – und eines Zufalls.

Die Räume sind hell und einladend und nur spärlich möbliert. Stühle, ein Tisch, Betten. Barbara Burren und Detlef Schulz nutzen diesen Ort als Ferienwohnung und haben sich daher aufs Nötigste beschränkt. Wir stehen im Wohnzimmer. Eine Glaswand gibt den Blick frei in den Patio, während der Blick durch das einzelne, präzise gesetzte Fenster an der Südseite über Häuserdächer in die Landschaft und hinüber zum Castelgrande schweift.

Marché Patrimoine ist schuld!

Dass wir an diesem Januartag an der Via Vallone im fünften Stock und in diesem Wohnraum stehen, hat seine besondere Geschichte. Barbara Burren und Detlef Schulz, Partner im Architekturbüro GFA in Zürich, unterrichten auch an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Im Herbst 2021 organisierten sie im Tessin eine Seminarwoche zum Thema «Tendenza» mit Besichtigung wichtiger
Bauten, darunter auch das Mehrfamilienhaus, das der Architekt Roberto Bianconi 1972 in Bellinzona entworfen hatte.

Es kam nicht dazu. Erschöpft vom Schauen, fiel der Besuch des Bianconi-Blocks aus dem Programm. Was folgte, war Zufall. «Wenig später», erinnert sich Detlef Schulz, «entdeckten wir auf der Website von Marché Patrimoine eine Wohnung in Bellinzona zum Kauf.» Es war die, die sie verpasst hatten. Das Architektenpaar fuhr hin, schaute und kaufte. «Wir haben keine Wohnung im Tessin gesucht. Uns haben vielmehr das Objekt und seine Geschichte hierhergeführt», sagt Barbara Burren und Detlef Schulz ergänzt lachend: «Marché Patrimoine ist schuld!»

Die Architekten mit einem biografisch und professionell bedingten Flair für Bauten der 1970er-Jahre wussten natürlich, welche Preziose ihnen hier so unvermittelt zufiel. Roberto Bianconi erfuhr nationale
Beachtung, als er im Geiste der später den Kanton Tessin prägenden «Tendenza» in Bellinzona Wohnblöcke realisierte und mit seinen kompakten Volumen, den farbigen Bandfenstern und den tiefen Balkonöffnungen für Aufsehen sorgte.

Davon ist einiges nicht mehr vorhanden. Der Wohnblock wurde in den 1980er-Jahren durch Mario Campi – eine weitere Lichtgestalt der «Tendenza» – saniert. Campi bevorzugte weiss. Die Struktur aber blieb erhalten – bis auf ein Detail im Penthouse. Der frühere Besitzer verband die zwei übereinanderliegenden Wohnungen mit einer Wendeltreppe.

Detlef Schulz und Barbara Burren – zum Kaufpaket gehörte auch die Wohnung in der vierten Etage – hatten freie Hand. Die Wendeltreppe ist weg und die beiden Wohnungen sind wieder getrennt. Die ursprünglich dort platzierte Wandscheibe wurde mit einem Fenster ersetzt. Eine kleine Änderung mit grosser Wirkung. «So wird die räumlich wichtige diagonale Beziehung zwischen Patio und Wohnbereich verstärkt», ein Entscheid «für eine neue Interpretation und gegen die reine Rekonstruktion.»

Reminiszenz in Rosa

Der Rest der Wohnung blieb im Wesentlichen unverändert. Hier und dort taucht dezent eine Erinnerung an das Verschwundene auf. Barbara Burren blättert in einem Katalog, zeigt frühe Aufnahmen des Gebäudes mit seinen farbigen Stahlelementen und Fensterrahmen. Bianconi habe jeweils zwei Farben pro Stockwerk verwendet, für die fünfte Etage zum Beispiel Pink und Hellgrün. Als Reminiszenz schimmert eine Wand neu in Rosa. Die weiteren Räume sind weiss. Neu sind hingegen die den Wänden entlanggezogenen, schwarz lackierten Borde, mal tiefer gesetzt dienen sie als Ablage und Sitzgelegenheit, mal höher als Schreibunterlage.

Im Schlafzimmer wurde die Unterseite des Bords als Erinnerungstupfer an die alte Farbigkeit pink gestrichen. Die Bodenbeläge hingegen sind neu. Verschwunden sind die ursprünglichen Keramikplatten und der Nadelfilz in den Zimmern. Ein grauer Pirelli-Boden – ein typisches Material der 1970er-Jahre – nimmt die ursprüngliche Farbe wieder auf. Nach dem Präludium am Wohnzimmertisch führt Barbara Burren den Besucher durch die Räume.

Zuerst gehts via Patio aufs Dach. Das Dauerlüftchen hier oben verspricht vor allem im Sommer Frische. Auf dieser Terrasse mit ihren weissen Lüftungsröhren und den originalen Lampen eines griechischen Schiffkutters fühlt es sich an wie auf einem Schiffsdeck. In naher Ferne rauscht der Sound der Autobahn. Barbara Burren führt den Besucher anschliessend im südlichen Schlafzimmer in die äusserste Ecke. Er tuts, schaut und staunt: Der einfache, aber raffinierte Grundriss ermöglicht einen diagonalen Durchblick. Die originale Küche ist eng, eine «Cockpit-Küche aus der Zeit eben», sagt Barbara Burren, «aber sie öffnet sich über die Panoramaschlitze hin zu Wohnraum und Patio und löst die Enge auf». Auf eine weitere Kleinigkeit mit grosser Wirkung weist Barbara Burren im Schlafzimmer Nord hin. Wer hier liegt, sieht durch ein Innenfenster in den Patio und von dort hinaus in die Welt.

«Unser Ziel war es nicht, denkmalpflegerisch spitzfindig vorzugehen, sondern zu versuchen, die einstvorhandene Stimmung einzufangen und mit wenigen Interventionen wiederzubeleben», resümiert Detlef Schulz zum Schluss und liefert einen Satz nach, der auch als Credo des Büros GFA verstanden werden darf: «Den Bestand respektieren und mit eigenen Elementen nachfühlen – nicht als Kontrast, sondern ein paar Jahrzehnte später und mit einem anderen Blick.»

Text: Marco Guetg, Journalist, Zürich; Bild: Georg Aerni

Dieser Artikel wurde erstmals in der Zeitschrift Heimatschutz/Patrimoine 1-2023 veröffentlicht.