Sollte man Nutzungen schützen?

Denkmalpflege und Umnutzung

Was ist eine historische Mühle, in der nichts mehr gemahlen wird, ein altes Postamt ohne Schalter, eine Alphütte ohne Kühe und ohne Käseproduktion? Immer wieder machen wir die Erfahrung, dass angestammte Nutzungen sang- und klanglos aus historischen Gebäuden verschwinden. Dieses Verschwinden erleben wir als Verlust, was zu der Frage fuhrt, ob auch Nutzungen geschützt werden sollten.

«Die alten Strassen noch, die alten Häuser noch, die alten Freunde aber sind nicht mehr.» So lautet der Refrain eines bekannten Liedes aus dem Ersten Weltkrieg, das die Wehmut eines Heimkehrenden besingt. Er hätte gerne das alte Leben wieder aufgenommen und stellt enttäuscht fest, dass seine Freunde gestorben sind und er nur noch die verlassene Bühne, die leere Hülle dessen, was er einst geliebt hat, vorfindet. Er wendet sich zutiefst betrübt über den Verlust dem Friedhof zu. Aus denkmalpflegerischer Sicht sieht die Sache allerdings anders aus: Es gibt gar keinen Verlust. Was der Denkmalpflege lieb und teuer ist, die alten Strassen und die alten Häuser, sind ja alle noch da! Schützt die Denkmalpflege womöglich das Falsche?

«Verlieren wir durch Nutzungsänderungen nicht unseren Sinn für Architektur?»

Dass sie die alten Freunde nicht vor dem Tod bewahren kann, ist klar. Aber selbst in Bezug auf die Bewahrung des angestammten Lebens, auf die Beibehaltung der ursprünglichen Nutzung eines historischen Gebäudes hat sie im konkreten Fall wenig zu sagen. Ob sie ihren Einfluss gerne dahingehend ausdehnen würde, ist nicht ganz klar. In einer Formulierung der Leitsätze zur Denkmalpflege scheint ein solches Anliegen leise anzuklingen, wenn da steht: «Die angestammte Nutzung stellt einen Wert dar, der nicht ohne wichtige Gründe aufgegeben werden sollte» (Leitsätze zur
Denkmalpflege, Zürich 2007, 3.2, S. 19). Sucht man im ersten Kapitel derselben Schrift, in dem Definitionen und genauere Begriffsbestimmungen eines Denkmals abgehandelt werden, finden wir jedoch nur unter 1.4 die historische Nutzung als einen Denkmalwert unter vielen kurz erwähnt. Lesen wir beim Zitat von oben weiter, findet sich unmittelbar nachfolgend die Aussage, dass sich neue Nutzungen am Denkmal orientieren müssten. Eine Erklärung, was das im konkreten Fall genau bedeutet, bleibt aus. Liest man die Leitsätze zwischen den Zeilen, gewinnt man den Eindruck, die ursprüngliche Nutzung werde primär deshalb bevorzugt, weil sie in der Regel dem Denkmal den geringsten Schaden zufüge, und auch eine Umnutzung beurteile man primär nach ihren Auswirkungen auf die materielle Substanz des Objekts und weniger auf eine inhaltliche Nähe zur ursprünglichen Nutzung. So zumindest lässt sich der Artikel 5 der Charta von Venedig interpretieren: «Die Erhaltung der Denkmäler wird immer begünstigt durch eine der Gesellschaft nützliche Funktion. Ein solcher Gebrauch ist daher wünschenswert, darf aber Struktur und Gestalt der Denkmäler nicht verändern.» Die Denkmalpflege scheint die Nutzung und also auch die Umnutzung eines Denkmals als notwendiges Übel zu betrachten, ohne das ein Überleben des Objekts ökonomisch nicht zu bewerkstelligen ist. Die Nutzung wird dabei als auswechselbar verstanden und nicht als mit dem Wesen des Denkmals unauflösbar verbunden.

Neue Nutzung: Das Industrieareal der Firma Vidmar in Köniz BE hat sich in ein «Biotop» aus Büro- und Dienstleistungsbetrieben, Handwerkern, Kunstschaffenden und Gastrobetrieben verwandelt. (Bild: G. Bally/Keystone)

Die Lust am So-noch-nie-Gesehenen

Ganz anders liegt die Sache für die Bauherren, für die Nutzer und auch für die Architekten: Für sie ist die Nutzung das Primäranliegen. Waren zu Zeiten des architektonischen Funktionalismus Umnutzungen unbeliebt, weil ein Umnutzungsobjekt nie so gut «funktionieren» konnte, wie ein eigens für den vorgesehenen Zweck erstellter Neubau, so änderte sich ab den 1980er-Jahren diese Einstellung. Plötzlich war das Überraschende, das Unkonventionelle und damit das Originelle, das fast jede Umnutzung zwangsläufig mit sich bringt, als Qualität erkannt und erwünscht. Faszinierten ab den 1980ern zunächst der Kontrast zwischen Alt und Neu, später die Patina des Alten, so sind es derzeit wohl eher die Materialien-, Farben-, und Formenvielfalt des Historischen. Nicht selten wird heute selbst da eine Umnutzung eines alten Gebäudes vorgenommen, wo baurechtlich ein Abbruch und Neubau erlaubt wäre.

Wie erwähnt, ist das Interesse am Überraschenden und Unkonventionellen von Umnutzungen relativ jung. Aber nicht allein die klassische Moderne mit ihrem Neuheitsdrang verachtete das Umnutzen, auch die vorhergehenden Epochen betrachteten es als höchstens ökonomisch interessant. Historische Architektur – besonders ausgeprägt diejenige des 18. Jahrhunderts – drückte in der Gestaltung eines Gebäudes den Rang, die Stellung und den Charakter des darin Enthaltenen aus: Ein Theater hatte festlich und verspielt, ein Wachthaus standhaft und ernst, eine Scheune sachlich und unaufdringlich zu sein. Das Gestaltungsniveau eines Wohnhauses sollte dem gesellschaftlichen Rang seiner Bewohner entsprechen. Versteht man Architektur so, bedeutet jede Umnutzung eine Verunklärung einer ursprünglich präzisen architektonischen Aussage und damit einen künstlerisch-ästhetischen Verlust. Unser Interesse an Umnutzungen hat viel mit dem aktuellen Zeitgeist zu tun, der allem Originellen und Kreativen eine sehr hohe Wertschätzung entgegenbringt. Die Lust am So-noch-nie-Gesehenen hat jedoch eine Kehrseite: Sie hält nicht lange an. Wer ist auch nach Jahren noch immer überrascht, wenn er in einem ehemaligen Weinlager eine Bibliothek, in einem ehemaligen Zeughaus ein Museum, in einer ehemaligen Fabrik eine Wohnung vorfindet? Das Interesse an Überraschendem und Unkonventionellem sucht sich immer Neues. Mit dem Abklingen der Überraschungseffekte schwächen sich aber auch unsere Erwartungshaltungen ab. Wir erwarten in einem Kornhaus längst keine Kornschütten, in einer Fabrikhalle keine Produktionsmaschinen, in einer alten Mühle keinen Mahlgang, keine Mahlsteine und keine Mehlsäcke mehr. Dass wir zunehmend in historischen Gebäuden den «falschen», will heissen, nicht angestammten Inhalt vorfinden, hat Auswirkungen auf unser «Architekturlesevermögen». Immer weniger sind wir gewillt und fähig, in historischen Fassaden eine auf den ursprünglichen Inhalt bezogene Aussage zu lesen. Sie verkommen damit zunehmend zu bedeutungslosen, schmucken Hüllen. Somit stellt sich die Frage, ob die zahllosen Umnutzungen nicht unser Architekturverständnis allmählich aushöhlen.

Seit 2014 kann die Kirche St. Josef in Luzern als multifunktionaler Saal genutzt werden, dank freier Bestuhlbarkeit, neuen Lampen und Stoffvorhängen an den Seitenwänden (Umbau: gzp Architekten). Das benachbarte Pfarreiheim ist ein Quartierzentrum. Das Ensemble trägt neu den Namen Der MaiHof. (Bild: Theres Bütler)

Das Denkmal bestmöglich in eine unbekannte Zukunft führen

Sollte die Denkmalpflege aus diesen Gründen also nicht nur das Gebäude, sondern auch dessen ursprüngliche Nutzung mitschützen? Diese Frage ist aus mindestens drei Gründen deutlich zu verneinen! Erstens, weil sie die Konsequenzen eines solchen Schutzes gar nicht zu tragen vermöchte. Zweitens, weil ein solcher Schutz unserem Staatsverständnis widersprechen würde. Und drittens, weil es ein Missverständnis ist, ihre Aufgabe sei, den Lauf der Zeit anzuhalten. Nicht einmal das Bekämpfen von Zeitgeistigem ist ihre Aufgabe. Vielmehr soll sie sich darauf beschränken, das Denkmal bestmöglich in eine unbekannte Zukunft zu führen und durch irgendwelche Moden drohende Beeinträchtigungen durch Aufklärung abzuwenden oder den Schaden zu minimieren. Dass sie bei ihrer Tätigkeit die angestammte Nutzung für einen Wert hält, der ohne wichtige Gründe nicht aufgegeben werden sollte, wie die Leitsätze es formulieren, ist als Faustregel richtig, ein darüber hinausgreifender Schutz einer ursprünglichen Nutzung liegt aber nicht in ihrer Kompetenz. Womöglich ist hier auch der Grund zu suchen, weshalb sowohl die Leitsätze als auch die Charta in Bezug auf die Nutzung eines Denkmals sehr zurückhaltend argumentieren: Die Nutzung ist zwar mit dem Wesen eines Denkmals verbunden, sie zu schützen, übersteigt aber die Möglichkeiten einer staatlichen Denkmalpflege.


Übertragen auf das Lied aus dem Ersten Weltkrieg hiesse das dann also, dass die Denkmalpflege am Verlust des Heimkehrers nichts zu ändern vermag? Nicht ganz: Sie kann ihm anbieten, nicht nur die Gräber der alten Freunde und den Friedhof, sondern auch die alten Strassen und die alten Häuser als Orte der Erinnerung zu verstehen. Mehr ist nicht möglich.

Text: Dr. Dieter Schnell, Dozent und Leiter des MAS Denkmalpflege und Umnutzung an der Berner Fachhochschule

Dieser Artikel wurde erstmals in der Zeitschrift Heimatschutz/Patrimoine 2-2016 veröffentlicht.
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